Ein Plädoyer für das Neue Wandern - von Ulrich Grober

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Ulrich Grober – Autor, passionierter Wanderer und ein wichtiger Vordenker der Nachhaltigkeit – legt hier sein Plädoyer für das Neue Wandern vor. Denn die menschlichste Form der Fortbewegung müsse dringend von der immer rigider werdenden Kommerzialisierung befreit und wieder an die Trends zur Entschleunigung und Nachhaltigkeit angekoppelt werden. "Das Neue Wandern ist Einspruch gegen den Stress der Beschleunigung", so Grober. Lesen Sie hier seine 15 Thesen:

1.

Wandern ist für alle zugänglich: Jung und Alt, männlich und weiblich, Arm und Reich. Wandern kennt unterschiedliche Praktiken: Trekking, das junge, wilde Wandern; und Pilgern, das „Gebet mit den Füßen“; Flanieren in urbanen Räumen oder das Genusswandern in der Kulturlandschaft. Die Lust am Wandern lässt sich auf vielfältige Weise ausleben: als geselliger Freizeitspaß oder Survivaltraining, als sanfter Natursport, nachhaltiger Tourismus oder Meditationsübung.

Alles hat seine Berechtigung, nichts ist unmöglich: Wanderstiefel oder barfuß, Turnschuhe oder Schneeschuhe. Es gilt eine nach oben offene Skala der Möglichkeiten mit fließenden Übergängen, bei denen das Wandererlebnis in die tiefe Erfahrung von Natur und Kosmos übergeht; bei der die Kunst des Wanderns sich berührt mit Lebenskunst und deren Kern – der Selbsterfahrung und Selbstsorge. Wandern ist Aufbruch zum „guten Leben“ im 21. Jahrhundert. Das ist das Neue am „Neuen Wandern“!

2.

Das Neue Wandern ist Einspruch gegen den Stress der Beschleunigung. Eine Wanderung nimmt für eine begrenzte Zeit das Tempo aus dem Alltag, reduziert es auf das menschliche Maß - den Fuß, den Schritt, also auf jene Geschwindigkeit, die dem Menschen von seiner Anatomie vorgegeben ist, seit er in der Morgenröte seiner Evolution den aufrechten Gang entdeckte.

Eine Wanderung - egal, ob drei Stunden, drei Tage oder drei Wochen - ist die einfachste und natürlichste Form der Entschleunigung. In dieser „Auszeit“ klinkt sich der Wanderer ein in die „Echtzeit“ von Sonne, Mond und Sternen, in die Zyklen und Rhythmen der Tages-, Jahres- und Lebenszeiten.

3.

Tipp: Wanderlust oder der Traum vom Paradies
Ausstellung über die Kulturgeschichte des Wanderns anlässlich des 117. Wandertages (1. Juli – 29. Oktober 2017) in Eisenach, konzipiert von Ulrich Grober und Reinhard Lorenz
www.eisenach.info

Das Neue Wandern ist Widerstand gegen eine übermäßige Digitalisierung und damit Widerstand gegen die Entsinnlichung des Alltags. Wer schon mal frei schweifend gewandert ist, kennt Alternativen zu den Smartphone- oder Navi-geleiteten Wegen in den Metropolenräumen. Wer die Farbenpracht eines herbstlichen Laubwaldes gesehen hat, nutzt die Farbskalen der Designersoftware souveräner.

Ohne das eigene Erleben begehbarer Räume sind wir den medial vermittelten Bildern ausgeliefert. Virtuelle Realitäten werden nur im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv. Erst im Pendeln zwischen den Welten, in der Kontrasterfahrung erschließt sich die ganze Fülle des Lebens. Es geht um die Ökologie der Sinne. „Mit allen Sinnen“ wahrnehmen: Blickachsen, Hörräume, Duftfelder, das Mikroklima, den Boden unter den Füßen. Wandern stillt den Hunger nach Realität, nach Sinnlichkeit und Schönheit.

4.

Das Neue Wandern ist Lebenselixier. Eigenbewegung, die Bewegung aus eigener Körperkraft, fühlt sich auf ganz besondere Weise lebendig an. Regelmäßige Bewegung bildet die Basis der eigenen Gesundheit und Kreativität. Besser als Krankheiten zu heilen, ist gar nicht erst krank zu werden.

Damit rücken die Entstehung und Erhaltung der Gesundheit, die „Salutogenese“, in den Fokus. Es geht um die Stärkung der Widerstandskraft des Organismus und der Seele. Das Neue Wandern fördert die Mobilisierung von Selbstheilungskräften. Es ist Teil von Selbstsorge und Selbstermächtigung.

5.

Wellness ist nicht alles, auch die Strapaze gehört zum Neuen Wandern. „An die Grenzen“ gehen, aber dosiert, selbstbestimmt, ohne die Kontrolle zu verlieren. So merkst du: Die Grenze bleibt nicht an derselben Stelle. Sie verschiebt sich. Oder besser gesagt: Du verschiebst sie. Deine Fähigkeiten wachsen mit den Anforderungen, die du erfolgreich bewältigt hast.

Die Erfahrung, dass du standhältst, ist von enormer Bedeutung für die Bildung von Resilienz. Insbesondere für Kinder, die sich in Wachstumsprozessen befinden – körperlich, emotional, seelisch. Wer beim Wandern solche Grenzsituationen bewältigt hat, geht mit Stresssituationen im Alltag gelassener um. Du weißt: Da geht noch was.

6.

Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich. Eine Wanderung machst du dreimal: Lange vor dem Aufbruch, dann nämlich, wenn die Sehnsucht in dir zu arbeiten beginnt. Auf dem Weg, wo man die Fülle der Eindrücke in sich aufnimmt. Nach der Rückkehr, wenn sich das Erlebnis des Raumes in Erinnerung verwandelt. Wer wandert, legt sich einen Vorrat an verarbeitungsfähigen Erfahrungen an. Damit erweitert und bereichert sich unsere mentale Landkarte. Wer so in den Alltag zurückkehrt, kann ein Leben lang davon zehren - selbst dann noch, wenn die Kräfte nachlassen.

Die Basis von allem ist die Achtsamkeit, mit der man unterwegs die Ereignisse, die Phänomene von Natur und Kosmos, von Kultur und Schönheit wahrnimmt und in sich aufnimmt. Die Kunst des Wanderns besteht vor allem darin: Seine „Pforten der Wahrnehmung“ möglichst weit zu öffnen.

7.

Das deutsche Lehnwort „Wanderlust“ meint im heutigen Englisch, der Sprache der Globalisierung, vor allem: die Lust am freien Schweifen, an selbstbestimmter Orientierung - Freiheitsdrang. Wir gewinnen Fähigkeiten zurück, die mit der Beschleunigung des Lebens verloren gegangen sind – Zeitsouveränität, Bewegungsfreiheit und die Aufmerksamkeit für die innere Stimme. „Wandern ist der höchste Zustand von Freiheit“ (Hans Jürgen von der Wense).

8.

Die Globalisierung im Zeichen des Geldes, Hauptursache der grassierenden Entfremdung, hat ihren Scheitelpunkt erreicht. Die nächste Welle ist die Wiederentdeckung und Aufwertung des Regionalen, der Heimat. Die Stärkung einer regionalen Kreislaufwirtschaft ist nur ein Aspekt. Ein anderer ist die Aufwertung der „Naherholung“. Hier kommt die „Exotik der Nähe“ ins Spiel: Das Neue Wandern wird sie aufspüren und erlebbar machen.

Die regionale Selbstversorgung auch mit immateriellen Werten wie Zur-Ruhe-kommen, Geborgenheit, Begegnung, Schönheit und Glück ist ebenfalls eine Wertschöpfungskette, ja sogar die primäre. Um möglichst viele Leute auf die Wege durch das Land zu locken, wären neue, enge Partnerschaften – ein Schulterschluss - von regionalen, ehrenamtlich organisierten Wanderverbänden, professionell arbeitenden Tourismusbüros, Naturschutz, Forst- und Landwirtschaft, Bildungseinrichtungen und Medien sinnvoll.

9.

„Fremd im eigenen Land“ - dies scheint derzeit ein um sich greifendes Grundgefühl in unserer Gesellschaft zu sein. Bevor die Fundamentalisten jeglicher Couleur es erfolgreich ausbeuten, muss dieses Gefühl dringend angesprochen und überwunden werden. Das Neue Wandern trägt dazu bei, Vertrautheit und Verbundenheit mit den Nahräumen herzustellen oder wieder zu entdecken. Wer sich die eigene Region, also die Heimat, und benachbarte Regionen auf den lokalen, regionalen und Fernwanderwegen „erwandert“, wird das Gefühl der „Fremdheit“ ablegen und sich im eigenen Land „zu Hause“ fühlen.

10.

„Landmarken“ sind wichtig, um die leiblich-seelische Identifizierung der Leute mit „ihrem“ Raum und mit einer Landschaft zu erzeugen. Wir brauchen die Topografie des Zaubers, die Kenntnis der Glanzpunkte in der heimischen Natur- und Kulturlandschaft. Erst wer das Eigene sehr gut kennt, kann das Fremde wirklich wertschätzen. Landmarken sind starke, magische, „poetische“ Orte – Erinnerungsorte, Resonanzorte.

Es geht dabei nicht nur um Königsstuhl oder Wartburg, Externsteine und Völklinger Hütte. Eine Landmarke kann ein Bildstock an einer Weggabelung sein oder eine schlichte Ruhebank am Berghang, die Dorfbewohner am Punkt der umfassendsten Aussicht aufgestellt haben. Der poetische Ort besitzt eine Aura, die sich der Reproduzierbarkeit entzieht. Auf diese Weise hebt er die Geschichtlichkeit und Identität einer Landschaft hervor.

11.

Der Weg ist das Ziel? Ja, aber markante, anziehende, „magische“ Ziele am Ende – oder am Rande – des Weges sind wichtig. Wir wären gut beraten, wenn wir das Wegenetz für das Neue Wandern durch die Kartierung von lokalen, regionalen und überregionalen Landmarken ergänzen.

Wir brauchen eine „Wiederverzauberung“ von Orten, eine neue Art von Heimatkunde. Regionale kulturelle Initiativen und Bildungseinrichtungen wie Literaturbüros, Kulturräte, Volkshochschulen haben das Know-how, um regionale Überlieferungen und deren Fortschreibung in der zeitgenössischen Literatur und Kunst zu sammeln, neu aufzubereiten und öffentlich zugänglich zu machen.

12.

Wege sind keine „Marken“, sondern Gemeingüter. Sie gehören allen – und damit keinem. Das Neue Wandern braucht eine Infrastruktur. Sie weiter zu entwickeln ist genau so Teil der Daseinsvorsorge wie der Erhalt der Trassen für den Verkehr und die Anlage von Datenautobahnen. Das regionale Wegenetz schafft eine lokale Ökonomie aus Pensionen und bezahlbaren Quartieren, Jugendherbergen, Hofläden, Bäckereien, Fleischereien, Wirtshäusern, Landhotels, Zeltund Biwakplätzen.

Eine enge Verbindung besteht zur „grünen Infrastruktur“ des Naturschutzes. Das Neue Wandern braucht, respektiert und genießt das Wegenetz für den Rückzug und die Wiederausbreitung der heimischen Flora und Fauna, also einen intakten Verbund von Schutzgebieten und Biotopen.

13.

Der Soziologe Hartmut Rosa entwickelte kürzlich „die Idee einer entgegenkommenden, antwortenden Welt, die uns berührt und der wir unsererseits entgegenzugehen vermögen“. Er spricht von einer neuen „Weltbeziehung“, deren Zentrum die „Resonanz“ ist. Die Kunst des Neuen Wanderns, die sich von angestaubtem Brauchtum und von neuen Zwängen des Kommerzes freigemacht hat, könnte sich als ein gangbarer Weg zur Annäherung an solche „Resonanzsphären“ erweisen.

Zum einen sind es ausgedehnte Naturräume, die als „Handlungssphäre“ und „eigenständiges Gegenüber“ ins Spiel, „zum Klingen“ kommen, „mit eigener Stimme sprechen“ und „etwas zu sagen haben“. Zum anderen wird beim Wandern in der gewachsenen Kulturlandschaft die Geschichte zu einem Resonanzraum - nicht zuletzt, indem die Beziehungen der eigenen Biografie zu der die sie tragenden „Kollektivgeschichte“ spürbar werden und ins Vibrieren kommen. Eine solche neue „Weltbeziehung“ wird ein Schlüssel sein, um die Kluft zwischen „Umweltbewusstsein“ und dem angemessenen „Umwelthandeln“ zu überbrücken.

14.

Jede Wanderung in der Freizeit ist auch eine Vorschule nachhaltiger Mobilitätsgewohnheiten im urbanen Alltag. Wer gerade auf dem „Rennsteig“ im grünen Herzen Deutschlands unterwegs war oder zu Fuß die Alpen überquert hat oder „el camino“ gepilgert ist, wird daheim kaum auf die Idee kommen, in die Blechkiste zu steigen, um Brötchen zu holen. Zu Fuß gehen und Radfahren – „die Motoren ersetzende Eigenbewegung“ (Boje Maaßen) - ist genuin nachhaltig. Muskelkraft ist eine erneuerbare Energie. Sie speist sich aus nachwachsenden Rohstoffen.

Eigenbewegung muss wieder die Basis unserer Vorstellung von Mobilität bilden. Entsprechend könnte sich das Umwelthandeln in anderen Bereichen ändern. Wer einmal eine intime Beziehung zum Naturschönen erlebt hat, wird den Verlust an Schönheit und Vielfalt in seiner alltäglichen Lebenswelt nicht mehr gleichgültig hinnehmen. Das Neue Wandern macht Lust auf ein Leben, das weit ausgreift.

15.

Kein Kind zurücklassen. Die lange Kette der nachfolgenden Generationen beginnt mit unseren Kindern und Enkeln. Sie sind unsere Kontaktpersonen zur Zukunft. Die erwachsene Generation muss der jungen sichtbar machen, was ihr wichtig ist. Sie darf aber nicht erwarten, dass diese das eins zu eins umsetzt. Denn was ist, wenn Kinder näher dran sind am „Zauber“ der Welt?

Auf jeden Fall muss die jeweils ältere Generation zulassen, dass die Jungen die Freiheit in Anspruch nehmen, eigene Erfahrungen zu machen und ihren Weg selbst zu wählen. Und trotzdem: „Weitergeben!“ Sein Können, seine Lebenserfahrung und seine Werte liebevoll, klug und gelassen an die jüngere Generation weitergeben – auch das eigene Erlebnis von Wanderlust und Wanderglück. Wer von Kindesbeinen an lustvoll gewandert ist, wird diese Gewohnheit lebenslang beibehalten oder früher oder später darauf zurückgreifen können.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 2-2017.